Donnerstag, 1. Oktober 2015

Kritik als gegenhegemoniale Intervention

von Chantal Mouffe

Übersetzt von Birgit Mennel und Tom Waibel Chantal Mouffe


Der erste Schritt der Annäherung an die Frage „Was ist Kritik?“ wird notwendig darin bestehen, eine Entscheidung hinsichtlich der Form der Kritik zu treffen, die wir besprechen wollen. Tatsächlich gibt es die unterschiedlichsten Verständigungen über das Wesen der Kritik, und die entsprechenden Grammatiken sind sehr vielfältig. Sollen wir die Aktivität der Kritik im Sinne eines Urteils oder im Sinne einer Praxis betrachten? Ist sie, wie oftmals geltend gemacht wird, eine selbstbewusste Aktivität, die mit der Aufklärung in Verbindung steht und für die Moderne charakteristisch ist? All diese Fragen können zu sehr unterschiedlichen Bearbeitungen der Aufgabenstellung führen. Zudem kann Kritik, wie Foucault richtig bemerkte, nicht ohne ihre Objekte bestimmt werden und ist demnach zur Streuung verdammt. Wenn wir unsere Untersuchung auf die Gesellschaftskritik beschränken, wird dies zwar das Feld möglicher Bedeutungen einschränken, aber die entscheidenden Meinungsverschiedenheiten bleiben trotzdem bestehen. Etwa jene zwischen Habermas, der darlegt, dass die Gesellschaftskritik einer Form von kritischer Gesellschaftstheorie – nach Art seiner Theorie des kommunikativen Handelns – bedarf, welche den Grund für streng normative Urteile bereitet, und anderen, die, wie Foucault, Kritik als Praxis des Widerstands ins Auge fassen.
Mein Ziel hier wird sehr spezifisch sein: Ich werde mich auf das Feld der Gesellschaftskritik und, genauer noch, auf die Beziehung zwischen Gesellschaftskritik und radikaler Politik beschränken. Ich beabsichtige, eine der derzeit modischsten Ansichten von heutiger Gesellschaftskritik, die radikale Politik auf die Begriffe von Desertion und Exodus bringt, genauer zu untersuchen und sie dem hegemonietheoretischen Ansatz gegenüberzustellen, den ich in meiner Arbeit verfochten habe. Mein Ziel besteht darin, die Hauptunterschiede zwischen diesen Ansätzen, die man grob als „Kritik als Rückzug aus …“ und „Kritik als Eingriff in …“ unterscheiden könnte, in den Vordergrund zu rücken und zu zeigen, wie diese Ansätze aus konfligierenden theoretischen Rahmenbestimmungen und Verständnisweisen des Politischen herrühren. Ich werde argumentieren, dass das Problem mit der Form radikaler Politik, wie sie von postoperaistischen Denkern wie Antonio Negri und Paolo Virno vorgeschlagen wird, letztlich auf ihrem mangelhaften Verständnis des Politischen beruht, das die unauslöschliche Dimension des Antagonismus nicht berücksichtigt.

Kritik als Rückzug aus …
Das von Michael Hardt und Antonio Negri in Empire[1] und Multitude[2] vorgeschlagene Modell von Gesellschaftskritik und radikaler Politik fordert einen vollständigen Bruch mit der Moderne sowie die Erarbeitung eines postmodernen Ansatzes. Ihrer Ansicht nach ist ein derartiger Bruch notwendig aufgrund der entscheidenden Veränderungen, die unsere Gesellschaften seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts durchgemacht haben. Jene Veränderungen, die aus dem Globalisierungsprozess und den durch die ArbeiterInnenkämpfe bewirkten Transformationen im Arbeitsprozess folgen, können allgemein in folgender Weise zusammengefasst werden:
1. Souveränität hat eine neue Form angenommen, die eine Reihe nationaler und supranationaler Organismen verbindet, welche eine einzige Herrschaftslogik eint. Diese neue globale Form der Souveränität, die sie „Empire“ nennen, hat das Stadium des Imperialismus ersetzt, der sich noch auf den Versuch von Nationalstaaten gründete, die Souveränität über ihre eigenen Grenzen hinaus auszudehnen. Im Gegensatz zu dem, was sich im Stadium des Imperialismus ereignete, hat das gegenwärtige Empire kein territoriales Zentrum der Macht und auch keine festgelegten Grenzziehungen; es ist ein dezentrierter und deterritorialisierter Herrschaftsapparat, der sich Schritt für Schritt den gesamten globalen Bereich in seine offenen, sich weitenden Grenzen einverleibt.
2. Diese Veränderung entspricht aus der Perspektive von Hardt und Negri der Transformation der kapitalistischen Produktionsweise, in der die Rolle industrieller Fabrikarbeit reduziert wurde und kommunikative, kooperative und affektive Arbeit an die erste Stelle rückte. In der Postmodernisierung der globalen Ökonomie wird Reichtum zunehmend durch die biopolitische Produktion geschaffen. Das gesellschaftliche Leben in seiner Gesamtheit wird zum Gegenstand der Herrschaft des Empire und stellt die paradigmatische Form von Biomacht dar.
3. Wir erleben den Übergang von einer „Disziplinargesellschaft“ zu einer „Kontrollgesellschaft“, die durch ein neues Paradigma der Macht gekennzeichnet ist. In der Disziplinargesellschaft, die der ersten Phase kapitalistischer Akkumulation entspricht, beruht die Herrschaft auf einem weitläufigen Netzwerk von Dispositiven oder Apparaten, die Verhaltensweisen, Gewohnheiten wie auch produktive Tätigkeiten hervorbringen und regulieren, und zwar unter Zuhilfenahme von Institutionen der Disziplinierung, wie etwa dem Gefängnis, der Fabrik, dem Asyl, dem Krankenhaus, den Schulen und anderen. Die Kontrollgesellschaft hingegen ist eine Gesellschaft, in der die Herrschaftsmechanismen dem gesellschaftlichen Feld immanent werden und auf die Köpfe und Körper der BürgerInnen verteilt werden. Die Art und Weise gesellschaftlicher Integration und Exklusion wird zunehmend durch Mechanismen internalisiert, welche die Köpfe und Körper direkt organisieren. Dieses neue Machtparadigma ist seinem Wesen nach biopolitisch. Für die Macht steht die Produktion und Reproduktion des Lebens selbst unmittelbar auf dem Spiel.
4. Hardt und Negri machen geltend, dass Konzepte wie „Massenintellektualität“, „immaterielle Arbeit“ und „General Intellect“ uns helfen, das Verhältnis von gesellschaftlicher Produktion und Biomacht zu erfassen. Die zentrale Rolle in der Produktion des Mehrwerts, die früher der Arbeitskraft der Fabrikarbeiter, dem Massenarbeiter, zukam, wird heute zunehmend durch die intellektuelle, immaterielle und kommunikative Arbeitskraft ausgefüllt. Die Figur der immateriellen Arbeit, die an der Kommunikation, Kooperation und Reproduktion von Affekten beteiligt ist, nimmt eine zunehmend zentrale Position im Schema kapitalistischer Produktion ein.
5. Da die Arbeitskraft im Übergang zur Postmoderne und zur biopolitischen Produktion zunehmend kollektiv und sozial wurde, ist ein neuer Begriff nötig, um diese/n gesellschaftliche/n ArbeiterIn zu bezeichnen, und zwar die „Multitude“. Hardt und Negri glauben, dass der Übergang zum Empire neue Möglichkeiten für die Befreiung der Multitude eröffnet. Sie betrachten die Errichtung des Empire als eine Antwort auf die mannigfaltigen Machtmaschinen und Kämpfe der Multitude. Die Multitude, meinen sie, rief das Empire ins Leben, und die Globalisierung ist eine Bedingung für die Befreiung der Multitude, insofern sie eine wirkliche Deterritorialisierung der früheren Ausbeutungs- und Kontrollstrukturen bewirkt, Die schöpferischen Vermögen der Multitude, die das Empire aufrechterhalten, haben die Fähigkeit zum Aufbau eines Gegen-Empires, einer alternativen politischen Organisation der weltweiten Ströme von Austausch und Globalisierung, durch die diese Ströme neu organisiert und mit neuen Zielen versehen werden.
An diesem Punkt lohnt es sich, die Arbeit von Paolo Virno einzuführen, um das Bild zu vervollständigen. Virnos Analysen in seinem Buch Grammatik der Multitude[3] fügen sich in vielerlei Hinsicht zu jenen von Hardt und Negri, doch es gibt auch einige bedeutende Unterschiede. Virno ist beispielsweise weit weniger zuversichtlich, was die Zukunft betrifft. Während Hardt und Negri eine messianische Sicht auf die Rolle der Multitude haben, die das Empire zwingend zu Fall bringen und eine „absolute Demokratie“ errichten wird, betrachtet Virno die gegenwärtigen Entwicklungen als ambivalentes Phänomen und anerkennt die neuen, für das postfordistische Stadium typischen Formen von Unterwerfung und Prekarisierung. Es ist wahr, dass die Leute weniger passiv sind als zuvor, aber dies resultiert daraus, dass sie nun zu aktiven AkteurInnen ihrer eigenen Prekarisierung geworden sind. Anstatt also, wie Hardt und Negri, die Verallgemeinerung der immateriellen Arbeit als eine Art „spontanen Kommunismus“ zu betrachten, neigt Virno dazu, den Postfordismus als eine Manifestation des „Kommunismus des Kapitals“ zu betrachten. Er merkt an, dass die kapitalistischen Initiativen heute genau jene materiellen und kulturellen Bedingungen zu ihren Gunsten instrumentieren, die unter anderen Umständen den Weg für eine mögliche kommunistische Zukunft hätten freilegen können.
Wenn es darum geht, sich vorzustellen, wie die Multitude sich selbst befreien könnte, erklärt Virno, dass das postfordistische Zeitalter die Schaffung einer „Republik der Multitude“ erforderlich macht, worunter er eine Sphäre gemeinsamer Angelegenheiten versteht, die nicht mehr mit dem Staat zusammenfällt. Er schlägt zwei Schlüsselbegriffe vor, um die der Multitude eignende Form des politischen Handelns zu erfassen, nämlich „Exodus“ und „zivilen Ungehorsam“. Ihm zufolge ist der Exodus ein vollwertiges Modell politischen Handelns, fähig, den Herausforderungen der modernen Politik zu begegnen. Er besteht in einer massenhaften Lossagung vom Staat, mit dem Ziel, das Öffentlichsein des Intellekts außerhalb der Arbeit und ihr entgegengesetzt zu entwickeln. Dafür bedarf es der Entwicklung einer nicht-staatlichen öffentlichen Sphäre sowie einer radikal neuen Form von Demokratie, deren Rahmen die Errichtung und das Experimentieren nicht-repräsentativer und außerparlamentarischer Demokratieformen abgibt, die in Bündnissen, Räten und Sowjets organisiert werden. Die Demokratie der Multitude verleiht sich selbst Ausdruck als ein Ensemble handelnder Minderheiten, die niemals danach streben, sich in eine Mehrheit zu verwandeln und die eine Macht entwickeln, die es ablehnt, eine Regierung zu werden. Ihr Seinsmodus ist ein „konkretes gemeinsames Handeln“, und obwohl sie bestrebt ist, die höchste Macht zu demontieren, neigt sie dennoch nicht dazu, an ihrer Stelle Staat zu werden. Darum muss der zivile Ungehorsam aus der liberalen Tradition befreit werden, in deren Bezugsrahmen er im Allgemeinen verortet wird. Im Fall der Multitude geht es nicht länger darum, ein bestimmtes Gesetz zu missachten, weil es im Widerspruch zu den Normen der Verfassung steht. Dies würde immer noch eine Loyalität gegenüber dem Staat unter Beweis stellen. Der Einsatz sollte vielmehr ein radikaler Ungehorsam sein, der das tatsächliche Vermögen der Befehlsgewalt des Staates infrage stellt.
Im Hinblick auf die Vorstellung einer angemesseneren Form politischen Handelns zur Befreiung der Multitude, gibt es, so scheint mir, keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen Virno sowie Hardt und Negri, die ebenfalls für Desertion und Exodus plädieren. Da es im Empire kein Außen mehr gibt, vertreten sie die Auffassung, dass die Kämpfe überall dagegen sein müssen. Dieses „Dagegen-Sein“ ist für sie der Schlüssel zu jeder politischen Haltung in dieser Welt; die Multitude muss die imperiale Souveränität als Feind erkennen und geeignete Mittel finden, um ihre Macht zu untergraben. Während im Zeitalter der Disziplin Sabotage als die Grundform des Widerstands galt, behaupten sie, dass dies im Zeitalter imperialer Kontrolle die Desertion sein sollte. Sie denken, dass die Schlachten gegen das Empire tatsächlich durch Desertion, durch die Evakuierung der Orte der Macht gewonnen werden könnten. Desertion und Exodus machen für sie eine machtvolle Form des Klassenkampfes gegen imperiale Postmodernität aus.
Ein weiterer wichtiger Punkt der Übereinstimmung betrifft ihre Konzeption der Demokratie der Multitude. Wohl verwendet Virno niemals den Begriff „absolute Demokratie“, aber in beiden Fällen finden wir eine Verwerfung des Modells repräsentativer Demokratie sowie den Aufriss eines starren Gegensatzes zwischen Multitude und „Volk“. Das Problem mit dem Begriff „Volk“ besteht ihnen zufolge darin, dass dieses in einer Einheit repräsentiert wird, mit einem einzigen Willen, und dass es an die Existenz des Staates gebunden ist. Die Multitude hingegen meidet die politische Einheit. Sie ist nicht repräsentierbar, da sie eine singuläre Vielheit ist. Sie ist eine Agentin aktiver Selbstorganisierung, die niemals den Status einer juridischen Person annehmen und niemals in einem Allgemeinwillen zusammenlaufen kann. Sie ist gegen Staat und „Volk“ gewendet. Wie Hardt und Negri fordert auch Virno, dass die Demokratie der Multitude nicht länger in Begriffen einer souveränen Autorität, das heißt als Repräsentant des „Volkes“, verstanden werden kann und dass neue nicht-repräsentative Demokratieformen benötigt werden.
Zusammenfassend könnten wir sagen, dass diesem Modell zufolge die Aktivität der Kritik einer Form der Negation entspricht, die in einem Rückzug aus den bestehenden Institutionen besteht.

Kritik als hegemonialer Eingriff in …
Ich werde nun zur Darstellung dessen übergehen, wie ich mir die Form von Gesellschaftskritik vorstelle, die für eine radikale Politik heute am geeignetsten ist. Ich stimme mit den oben besprochenen Autoren darin überein, dass es nötig ist, die wesentlichen Veränderungen in der Regulationsweise des Kapitalismus in Betracht zu ziehen, die durch die Transition vom Fordismus zum Postfordismus herbeigeführt wurden; aber ich glaube, dass die Dynamiken dieser Transition im Rahmen der Hegemonietheorie, die Ernesto Laclau und ich in unserem gemeinsam verfassten Buch Hegemonie und radikale Demokratie[4] vorgeschlagen haben, besser erfasst werden können. Auch ich halte es für entscheidend, jene Veränderungen nicht als bloße Konsequenz technologischer Fortschritte zu betrachten und ihre politische Dimension in den Vordergrund zu rücken. Ich möchte jedoch betonen, dass viele Faktoren zu diesem Übergang beigetragen haben und dass es daher notwendig ist, ihren komplexen Charakter zu würdigen. Mein Problem mit der operaistischen und der postoperaistischen Sichtweise ist, dass sie, wegen der überaus starken Betonung der ArbeiterInnenkämpfe, diese Transition tendenziell so wahrnehmen, als ob sie nur von einer einzigen Logik vorangetrieben würde: dem Widerstand der ArbeiterInnen gegen den Ausbeutungsprozess, der die KapitalistInnen zur Reorganisation des Produktionsprozesses zwingt und zum Schritt in den Postfordismus mit seinem Fokus auf immaterielle Arbeit. Ihrer Auffassung nach kann der Kapitalismus nur reaktiv sein, und sie weigern sich, die kreative Rolle zu akzeptieren, die das Kapital ebenso innehat wie die Arbeit. Sie bestreiten in der Tat die Rolle des hegemonialen Kampfes in dieser Transition, und dies ist, wie ich in Kürze argumentieren werde, ihrer immanentistischen Ontologie sowie ihrer Weigerung geschuldet, das Politische in seiner antagonistischen Dimension anzuerkennen.
Dem von mir vertretenen Ansatz zufolge sind „Antagonismus“ und „Hegemonie“ die beiden Schlüsselkonzepte, um die Frage des Politischen anzusprechen. Einerseits ist es notwendig, die Dimension des Politischen als immer gegenwärtige Möglichkeit des Antagonismus anzuerkennen; dies verlangt andererseits, das Fehlen eines letzten Grundes ebenso zu akzeptieren wie die Unentscheidbarkeit, die jede Ordnung durchdringt. Es bedeutet, den hegemonialen Charakter einer jeden gesellschaftlichen Ordnung zu erkennen und die Gesellschaft als Produkt einer Reihe von Praxen ins Auge zu fassen, deren Ziel es ist, eine Ordnung in einem Kontext der Kontingenz zu errichten. Die Praxen der Artikulation, durch die eine gegebene Ordnung geschaffen und die Bedeutung gesellschaftlicher Institutionen fixiert wird, nennen wir „hegemoniale Praxen“. Jede Ordnung ist die vorübergehende und prekäre Artikulation kontingenter Praxen. Die Dinge hätten immer auch anders sein können, und jede Ordnung gründet sich auf den Ausschluss anderer Möglichkeiten. Sie ist immer der Ausdruck einer besonderen Struktur von Machtverhältnissen. Was in einem bestimmten Moment als die „natürliche Ordnung“ akzeptiert wird, zusammen mit dem sie begleitenden Gemeinsinn, ist das Ergebnis sedimentierter hegemonialer Praxen; es ist niemals die Manifestation einer tieferen Objektivität, die den Praxen, die sie ins Leben rufen, äußerlich wäre. Jede hegemoniale Ordnung ist empfänglich für die Herausforderung durch gegenhegemoniale Praxen, die versuchen, sie zu desartikulieren, um eine andere Form von Hegemonie einzusetzen.
Ich behaupte, dass es notwendig ist, diese hegemoniale Dimension einzuführen, sobald man die Transition vom Fordismus zum Postfordismus in den Blick nimmt. Dies bedeutet, die Ansicht aufzugeben, dass eine einzige Logik, die der ArbeiterInnenkämpfe, in der Entwicklung des Arbeitsprozesses am Werk ist, und es bedeutet, die proaktive Rolle des Kapitals anzuerkennen. Dazu lassen sich interessante Einsichten in der Arbeit von Luc Boltanski und Eve Chiapello finden, die in ihrem Buch Der neue Geist des Kapitalismus[5] die Art und Weise beleuchten, wie es den KapitalistInnen gelang, die Autonomieforderungen der in den 1960ern entstandenen neuen Bewegungen zu verwenden, indem sie sich diese Forderungen in der Entwicklung der postfordistischen Netzwerkökonomie zunutze machten und sie in neue Formen der Kontrolle verwandelten. Was sie „Künstlerkritik“ nennen, um auf die ästhetischen Strategien der Gegenkultur hinzuweisen – die Suche nach Authentizität, das Ideal der Selbstverwaltung, die antihierarchische Forderung –, wurde verwendet, um die Bedingungen voranzutreiben, die für die neue kapitalistische Regulationsweise benötigt wurden, welche die für die fordistische Periode charakteristischen disziplinären Rahmenbedingungen ersetzte.
Meiner Meinung nach ist an diesem Ansatz der Hinweis interessant, dass eine wichtige Dimension des Übergangs vom Fordismus zum Postfordismus ein Prozess diskursiver Umformulierung von bestehenden Diskursen und Praxen ist; das erlaubt uns, diese Transition im Sinn einer hegemonialen Intervention zu veranschaulichen. Wohl verwenden Boltanski und Chiapello niemals dieses Vokabular, doch ist ihre Analyse ist ein deutliches Beispiel für das, was Gramsci „Hegemonie durch Neutralisierung“ oder „passive Revolution“ nannte; Gramsci bezog sich dabei auf Situationen, in denen Forderungen, welche die hegemoniale Ordnung infrage stellen, vom bestehenden System vereinnahmt werden, indem ihnen auf eine Weise Genüge getan wird, die ihr subversives Potenzial neutralisiert. Sobald wir die Transition vom Fordismus zum Postfordismus in einem solchen Rahmen begreifen, können wir sie als einen hegemonialen Schritt des Kapitals zur Wiederherstellung seiner führenden Rolle sowie zur Stärkung seiner infrage gestellten Legitimität verstehen.
Es ist offensichtlich, dass – sobald wir die gesellschaftliche Realität im Sinne hegemonialer Praxen ins Auge fassen – der für radikale Politik charakteristische Prozess der Gesellschaftskritik nicht länger ein Rückzug aus den bestehenden Institutionen sein kann, sondern ein Eingriff in diese sein muss, um derart die bestehenden Diskurse und Praxen, durch welche die gegenwärtige Hegemonie errichtet und reproduziert wird, zu desartikulieren, und zwar mit dem Ziel, eine andere Hegemonie zu konstruieren. Ich möchte betonen, dass ein solcher Prozess nicht bloß in der Trennung verschiedener Elemente bestehen kann, deren diskursive Artikulation am Ursprung dieser Praxen und Institutionen liegt. Das zweite Moment, das Moment einer Reartikulation ist entscheidend. Andernfalls stehen wir am Ende einer chaotischen Situation reiner Dissemination gegenüber und lassen die Tür für Versuche einer Reartikulation durch nicht-progressive Kräfte offen. Tatsächlich verfügen wir über viele historische Beispiele von Situationen, in denen die Krise der herrschenden Ordnung zu rechtsgerichteten Lösungen führte. Es ist daher entscheidend, dass das Moment der Desidentifikation von einem Moment neuerlicher Identifikation begleitet wird und dass die Kritik und Desartikulation der bestehenden Hegemonie mit einem Prozess der Reartikulation Hand in Hand geht. Gerade dies fehlt in allen Ansätzen, die von Verdinglichung oder falschem Bewusstsein reden und glauben, es reiche aus, die Last der Ideologie abzuwerfen, um eine neue Ordnung, frei von Unterdrückung und Macht, herbeizuführen. Wenngleich auf andere Weise, übersehen dies auch die Theoretiker der Multitude, die glauben, dass ihr oppositionelles Bewusstsein keine politische Artikulation benötigt. Dem Hegemonieansatz entsprechend, ist die gesellschaftliche Wirklichkeit diskursiv gestaltet, und Identitäten sind immer das Ergebnis von Identifikationsprozessen. Besondere Formen von Individualitäten werden durch die Einfügung in eine Mannigfaltigkeit von Praxen und Sprachspielen erzeugt. Das Politische hat eine primär strukturierende Rolle, da gesellschaftliche Verhältnisse letztlich kontingent sind und jede obsiegende Artikulation aus einer antagonistischen Konfrontation resultiert, deren Ausgang nicht im Voraus bestimmt ist. Darum braucht es eine Strategie, die durch eine Reihe gegenhegemonialer Interventionen auf die Desartikulation der bestehenden Hegemonie abzielt, sowie darauf, dank eines Prozesses der Reartikulation von neuen und alten Elementen in einer Machtkonfiguration eine progressivere Hegemonie zu errichten.

Schlussfolgerungen
Ich halte es für wichtig, wahrzunehmen, dass die Unterschiede zwischen den beiden von mir dargestellten Ansätzen aus sehr unterschiedlichen Ontologien herrühren, die ihren theoretischen Rahmen abgeben. Die Strategie des Exodus, die auf einer Ontologie der Immanenz basiert, setzt die Möglichkeit eines erlösenden Sprungs in eine Gesellschaft jenseits von Politik und Souveränität voraus, in der es der Multitude möglich wäre, sich unmittelbar selbst zu regieren und instrumentiert zu handeln, ohne Gesetz oder Staat zu benötigen, und in der jeder Antagonismus verschwunden wäre. Im Gegensatz dazu erkennt die hegemoniale Strategie, dass der Antagonismus irreduzibel ist und dass, als Konsequenz davon, die gesellschaftliche Objektivität niemals vollständig festgelegt werden kann; als weitere Konsequenz erkennt sie an, dass ein vollkommen inklusiver Konsens und eine absolute Demokratie niemals erreichbar sind. Der immanentistischen Ansicht nach ist das grundlegende ontologische Gebiet das einer Vielheit. In vielen Fällen beruht sie außerdem auf einer vitalistischen Ontologie, derzufolge die physikalische und soziale Welt in ihrer Gesamtheit als Ausdruck einer zugrunde liegenden Lebenskraft verstanden wird. Das Problem mit dieser immanentistischen Auffassung, in all ihren Varianten, ist ihre Unfähigkeit, die Rolle der radikalen Negativität, das heißt den Antagonismus, zu erklären. Wohl gibt es bei jenen TheoretikerInnen Negation und sie verwenden sogar den Begriff „Antagonismus“, aber diese Negation wird nicht als radikale Negativität verstanden. Sie wird entweder in der Weise eines dialektischen Widerspruchs oder einfach als Realopposition begriffen. Wie wir in Hegemonie und radikale Demokratie gezeigt haben, muss für ein Verständnis der Negation in der Weise eines Antagonismus ein anderer ontologischer Ansatz verfolgt werden, in dem das primäre ontologische Gebiet das einer Spaltung, einer verhinderten Einheit ist. Antagonismus ist nicht fassbar in einer Problemstellung, die die Gesellschaft als einen homogenen Raum betrachtet, da dies mit der Anerkennung der radikalen Negativität unvereinbar ist. Wie Ernesto Laclau betonte, sind die beiden Pole des Antagonismus durch eine nicht-relationale Relation verbunden, sie gehören nicht demselben Repräsentationsraum an und verhalten sich wesentlich heterogen zueinander. Sie gehen aus dieser irreduziblen Heterogenität hervor. Um für radikale Negativität Raum zu schaffen, müssen wir die immanentistische Idee eines homogenen, gesättigten sozialen Raums aufgeben und die Rolle der Heterogenität anerkennen. Dies setzt den Verzicht auf die Idee einer Gesellschaft jenseits von Spaltung und Macht, ohne Notwendigkeit von Gesetz oder Staat, voraus, in der die Politik in der Tat verschwunden wäre.
Es ließe sich argumentieren, dass die Strategie des Exodus eine in anderem Vokabular erfolgende Reformulierung der Idee des Kommunismus ist, wie sie sich bei Marx fand. Tatsächlich gibt es viele Ähnlichkeiten zwischen den Ansichten der PostoperaistInnen und der traditionellen marxistischen Auffassung. Wohl ist für jene das bevorzugte politische Subjekt nicht länger das Proletariat, sondern die Multitude, aber in beiden Fällen wird der Staat als monolithischer Herrschaftsapparat verstanden, der nicht verändert werden kann. Dieser muss „absterben“, um Platz für eine versöhnte Gesellschaft jenseits von Gesetz, Macht und Souveränität zu schaffen.
Wenn unser Ansatz „post-marxistisch“ genannt wurde, dann eben darum, weil wir den einer solchen Konzeption unterliegenden Typus von Ontologie herausgefordert haben. Indem wir die Dimension der Negativität ins Blickfeld rückten, welche die vollständige Totalisierung der Gesellschaft vereitelt, stellten wir die schiere Möglichkeit einer solchen versöhnten Gesellschaft infrage. Die Unauslöschlichkeit des Antagonismus anzuerkennen geht mit der Akzeptanz einher, dass jede Form der Ordnung zwingend hegemonial ist und dass die Heterogenität nicht beseitigt werden kann; eine antagonistische Heterogenität verweist auf die Grenzen der Errichtung einer gesellschaftlichen Objektivität. Was die Politik angeht, bedeutet dies, dass sie im Sinne eines hegemonialen Kampfes zwischen konfliktiven Hegemonieprojekten verstanden werden muss, die versuchen, das Universelle zu verkörpern und die symbolischen Parameter des gesellschaftlichen Lebens zu bestimmen. Hegemonie wird durch die Errichtung von Knotenpunkten erreicht, welche die Bedeutung von Institutionen und sozialen Praxen diskursiv fixieren und den Gemeinsinn artikulieren, wodurch eine bestimmte Konzeption von Realität begründet wird. Ein solches Ergebnis wird immer kontingent, prekär und anfällig dafür sein, von gegenhegemonialen Interventionen herausgefordert zu werden. Politik findet immer in einem von Antagonismen mehrfach durchkreuzten Feld statt; ein Verständnis von Politik als „konkretes gemeinsames Handeln“ führt zur Tilgung der ontologischen Dimension des Antagonismus (von der ich vorgeschlagen habe, sie „das Politische“ zu nennen), die ihre quasi-transzendentale Möglichkeitsbedingung bildet. Eine eigentlich politische Intervention ist immer eine, die in einen bestimmten Aspekt der bestehenden Hegemonie eingreift, um deren konstitutive Elemente zu desartikulieren oder zu reartikulieren. Sie kann niemals rein oppositionell sein oder als Desertion begriffen werden, da sie auf die Reartikulation der Situation in einer neuen Konfiguration abzielt.
Ein weiterer wichtiger Aspekt einer hegemonialen Politik besteht darin, eine „Äquivalenzkette“ zwischen verschiedenen Ansprüchen zu errichten, um diese so in Forderungen zu verwandeln, welche die bestehende Struktur der Machtverhältnisse herausfordern. Es ist offensichtlich, dass das Ensemble demokratischer Ansprüche, die in unseren Gesellschaften existieren, nicht notwendigerweise in Übereinstimmung mündet und dass diese sogar in Konflikt zueinander stehen können. Darum müssen sie politisch artikuliert werden. Auf dem Spiel steht die Schaffung einer gemeinsamen Identität, eines „Wir“, das die Bestimmung eines „Sie“ erforderlich macht. Auch dies übersehen die verschiedenen FürsprecherInnen der Multitude, die zu glauben scheinen, dass diese eine natürliche Einheit aufweist, die keiner politischen Artikulation bedarf. Virno zufolge hat die Multitude beispielsweise bereits etwas gemein: den General Intellect. Seine (von Hardt und Negri geteilte) Kritik am Begriff des „Volkes“ als einer Homogenität, ausgedrückt durch einen Allgemeinwillen, der keinen Raum für Vielheit lässt, schlägt völlig fehl, sobald es um die Konstruktion des „Volkes“ durch eine Äquivalenzkette geht. In diesem Fall haben wir es tatsächlich mit einer Form von Einheit zu tun, welche die Diversität respektiert und die Differenzen nicht auslöscht. Wie wir wiederholt betont haben, löscht eine Äquivalenzbeziehung die Differenz nicht aus – dies wäre einfach Identität. Nur insofern demokratische Differenzen Kräften oder Diskursen entgegensetzt werden, die sie allesamt negieren, können diese Differenzen einander ersetzen. Darum verlangt die Errichtung eines kollektiven Willens die Bestimmung eines Gegners. Ein solcher Gegner kann nicht in weitgefassten allgemeinen Begriffen wie „Empire“ oder, wenn wir schon dabei sind, „Kapitalismus“, bestimmt werden, sondern in Form von Knotenpunkten der Macht, die angepeilt und verändert werden müssen, um die Bedingungen für eine neue Hegemonie zu schaffen. Es ist ein „Stellungskrieg“ (Gramsci), der an einer Vielzahl von Orten entfacht werden muss. Dies ist nur durch die Herstellung von Verbindungen zwischen sozialen Bewegungen, politischen Parteien und Gewerkschaften möglich. Einen kollektiven Willen durch die Errichtung einer Äquivalenzkette zu schaffen sowie in eine große Anzahl von Institutionen einzugreifen, mit dem Ziel, sie zu verändern, das ist meiner Ansicht nach jene Art von Kritik, die radikale Politik beseelen sollte.



[1] Michael Hardt / Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, übers. v. Thomas Atzert u. Andreas Wirthensohn, Frankfurt a. M. / New York: Campus 2002.
[2] Michael Hardt / Antonio Negri, Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, übers. v. Thomas Atzert u. Andreas Wirthensohn, Frankfurt a. M. / New York: Campus 2004.
[3] Paolo Virno, Die Grammatik der Multitude. Öffentlichkeit, Arbeit und Intellekt als Lebensformen, übers. v. Klaus Neundlinger, Wien: Turia + Kant 2005.
[4] Ernesto Laclau / Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, übers. v. Michael Hintz u. Gerd Vorwallner, Wien: Passagen 1998.
[5] Luc Boltanksi / Eve Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, übers. v. Michael Tillmann, Konstanz: UVK 2006.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen