Samstag, 18. April 2015

70 JAHRE FÜR DIE MENSCHEN - DIE ERFOLGE DES ÖGB


1945 RECHTSÜBERLEITUNGSGESETZ ALS GRUNDLAGE DES ÖSTERR.
         SOZIALRECHTES; AK-, FEIERTAGSRUHEGESETZ

1946 ARBEITERURLAUBS-, JUGENDEINSTELLUNGSGESETZ

1947 SOZIALVERSICHERUNGS-, KOLLEKTIVVERTRAGS-, BETRIEBSRÄTE-,
         ARBEITSINSPEKTIONSGESETZ

1948 HERABSETZUNG DER ALTERSGRENZE FÜR WEIBL. VERSICHERTE U. WITWEN IN
         DER RENTENVERSICHERUNG

1949 ARBEITSLOSENVERSICHERUNGSGESETZ BRINGT WIEDER DAS
         VERSICHERUNGSPRINZIP ZURÜCK; KINDERBEIHILFENGESETZ

1950 NOVELLE ZUM KINDERBEIHILFENGESETZ

1951 MINDESTLOHNTARIF-, WOHNUNGSBEIHILFENGESETZ

1952 GRÜNDUNG DES VERBANDES FÜR SOZIALTOURISMUS MIT EINFÜHRUNG VON
         VERBILLIGTEN URLAUBSMARKEN

1953 JUGENDEINSTELLUNGSGESETZ ZUR BEKÄMPFUNG DER HOHEN
         JUGENDARBEITSLOSIGKEIT

1954 HEIMARBEITSGESETZ

1955 ALLGEMEINES SOZIALVERSICHERUNGSGESETZ

1956 ARBEITSPLATZSICHERUNGSGESETZ

1957 MUTTERSCHUTZGESETZ

1958 VERHANDLUNGEN ZUR ARBEITSZEITVERKÜRZUNG AUF 45 STUNDEN

1959 GENERALKOLLEKTIVVERTRAG ZUR EINFÜHRUNG DER 45-STUNDEN-WOCHE
         TRITT IN KRAFT

1960 SÄUGLINGS-, GEBURTENBEIHILFE- UND KARENZURLAUBSGESETZ

1961 AUSLANDSRENTENÜBERNAHMEGESETZ

1962 HAUSGEHILFEN-HAUSANGESTELLTENGESETZ

1963 SCHAFFUNG DES BEIRATES FÜR WIRTSCHAFTS- UND SOZIALFRAGEN DER
         PARITÄTISCHEN KOMMISSION

1964 VERLÄNGERUNG DES MINDESTURLAUBS DURCH GENERAL-KV AUF DREI
         WOCHEN

1965 PENSIONSANPASSUNGSGESETZ; DIENSTNEHMERHAFTPFLICHTGESETZ

1966 MIT DER 19. ASVG-NOVELLE WIRD DAS RISIKO „KRANKHEIT“ ENTSCHÄRFT

1967 BEAMTEN-, KRANKEN-, URLAUBSVERSICHERUNGSGESETZ; BUNDES- PERSONALVERTRETUNGSGESETZ

1968 KINDERBEIHILFE WIRD DURCH EINHEITLICHE UND HÖHERE FAMILIENBEIHILFE ERSETZT

1969 BERUFSAUSBILDUNGS-, ARBEITSMARKTFÖRDERUNGSGESETZ

1970 GENERAL-KV ÜBER DIE SCHRITTWEISE EINFÜHRUNG DER 40-STD.-WOCHE – ÄNDERUNG ARBEITSZEITGESETZ

1971 SCHÜLERBEIHILFENGESETZ

1972 JUGENDVERTRAUENSRÄTE-, ARBEITNEHMERSCHUTZGESETZ

1973 BESCHLUSS DES ARBEITSVERFASSUNGSGESETZES

1974 ENTGELTFORTZAHLUNGSGESETZ – LOHNFORTZAHLUNG BEI KRANKHEIT UND URLAUB

1975 DIE 40-STD.-WOCHE TRITT IN KRAFT; FAMILIENRECHTSREFORM

1976 BESCHLUSS DES URLAUBSGESETZES, ERHÖHUNG DES MINDESTURLAUBES, PFLEGEFREISTELLUNG

1977 ENTGELTSICHERUNGSGESETZ

1978 REFORM DER BERUFSAUSBILDUNG

1979 GLEICHSTELLUNG DER ARBEITERINNEN MIT DEN ANGESTELLTEN BEI ABFERTIGUNG, GLEICHBEHANDLUNGSGESETZ

1980 MITBESTIMMUNG DER ARBEITNEHMERVERTRETERiNNEN IM
AUFSICHTSRAT WIRD NEU GEREGELT

1981 VERBESSERUNG NACHTSCHICHT-SCHWERARBEITERGESETZ

1982 GESELLSCHAFTSRECHTSÄNDERUNGSGESETZ

1983 ETAPPENWEISE VERLÄNGERUNG DES MINDESTURLAUBS VON VIER AUF FÜNF WOCHEN

1984 ARBEITSRUHEGESETZ

1985 ERSTE KOLLEKTIVVERTRÄGE MIT KÜRZERER ARBEITSZEIT ALS 40 STUNDEN

1986 VERBESSERUNG ARBEITSVERFASSUNGSGESETZ

1987 ARBEITS- UND SOZIALGERICHTSGESETZ TRITT IN KRAFT

1988 ARBEITSKRÄFTEÜBERLASSUNGSGESETZ

1989 NOVELLE ZUM ARBEITSLOSENVERSICHERUNGSGESETZ – KARENZ FÜR VÄTER

1990 ÖGB FORDERT 10.000 SCHILLING MINDESTLOHN – ERREICHT IN DEN KOLLEKTIVVERTRÄGEN DER NÄCHSTEN 10 JAHRE

1991 ZUVERDIENSTGRENZEN FÜR PENSIONISTiNNEN FALLEN

1992 GLEICHBEHANDLUNGSPAKET, LEHRLINGSFREIFAHRT

1993 NACHTSCHICHT-SCHWERARBEITERGESETZ, PFLEGEGELD

1994 REFORM DER SOZIALVERSICHERUNGSORGANISATION

1995 START DER „AKTION FAIRNESS“ DES ÖGB ZUR GLEICHSTELLUNG VON ARBEITERN UND ANGESTELLTEN

1996 MASSNAHMENKATALOG DER SOZIALPARTNER FÜR BESCHÄFTIGUNGS-OFFENSIVE

1997 SOZIALPARTNEREINIGUNG ZUR ARBEITSZEITFLEXIBILISIERUNG AUF KOLLEKTIVVERTRAGLICHER GRUNDLAGE

1998 FREIWILLIGE SELBSTVERSICHERUNG FÜR GERINGFÜGIG BESCHÄFTIGTE IN KRAFT

1999 STEUERREFORM BRINGT ENTLASTUNG FÜR ARBEITNEHMERINNEN

2000 ANGLEICHUNG DER ENTGELTFORTZAHLUNGSFRISTEN DER ARBEITER UND ANGESTELLTEN

2001 SOZIALPARTNEREINIGUNG ZUR MODERNISIERUNG DES ARBEITNEHMERiNNENSCHUTZES

2002 ABFERTIGUNG NEU

2003 ÖGB ERREICHT DURCH AKTIONEN UND STREIKS ABMILDERUNG DER HÄRTEN DER GEPLANTEN PENSIONSREFORM

2004 SOZIALPARTNEREINIGUNG ÜBER ENTGELTSCHUTZ FÜR ARBEITSLOSE

2005 SCHWERARBEITERREGELUNG, ÄNDERUNG DER DIENSTLEISTUNGSRICHTLINIE

2007 MEHRARBEITSZUSCHLAG FÜR TEILZEITBESCHÄFTIGTE

2007 SOZIALE ABSICHERUNG DER FREIEN DIENSTNEHMERINNEN

2007 AUSBILDUNGSGARANTIE BIS 18 JAHRE

2008 ÖGB/WKÖ VERPFLICHTEN SICH ZUR UMSETZUNG VON 1.000 EURO MINDESTLOHN

2009 STEUERREFORM UND ARBEITSMARKTPAKETE

2010 BEDARFSORIENTIERTE MINDESTSICHERUNG

2011 NATIONALER AKTIONSPLAN FÜR GLEICHBEHANDLUNG IN DER ARBEITSWELT, MIT INTERNEN EINKOMMENSBERICHTEN, ANGABE DES MINDESTEINKOMMENS IN STELLENINSERATEN

2011 GESETZ GEGEN LOHN- UND SOZIALDUMPING

2012 BILDUNGSKARENZ WIRD DAUERRECHT

2013 REFORM KURZARBEIT

2013 AUFLÖSUNGSABGABE

2013 ERWEITERUNG DER BERUFSKRANKHEITENLISTE

2013 SCHLECHTWETTERENTSCHÄDIGUNG FÜR BAUARBEITERINNEN BEI HITZE

2013 PFLEGEFREISTELLUNG FÜR „PATCH-WORK-FAMILIEN“

2013 VERBESSERUNGEN FÜR LEIHARBEITNEHMERINNEN IM ARBEITSKRÄFTE-ÜBERLASSUNGSGESETZ

2014 VERSCHÄRFUNG DES GESETZES GEGEN LOHN- UND SOZIALDUMPING

Freitag, 17. April 2015

Stefan Wirlandner - Rückkehr aus dem Exil

Stefan Wirlandner kehrte Anfang Mai 1945 als erster Sozialist und Gewerkschafter aus dem Exil zurück. Ein Auszug aus seinen bisher unveröffentlichten Erinnerungen.

http://www.arbeit-wirtschaft.at/servlet/ContentServer?pagename=X03%2FPage%2FIndex&n=X03_0.a&cid=1426089918352



Stefan Wirlandner (1905–1981) war einer der renommiertesten und einflussreichsten WirtschaftsexpertInnen der ArbeiterInnenbewegung in der Zweiten Republik. Ab Juni 1945 war er maßgeblich am Aufbau der Arbeiterkammer Wien beteiligt, wurde schließlich ihr stellvertretender Direktor und später Vizedirektor der Österreichischen Nationalbank. Wirlandner stammte aus einer Wiener Arbeiterfamilie, im Jahr 1934 hatte er auf Druck der Austrofaschisten seine Stellung in der Wiener Arbeiterkammer verloren, im Jahr 1938 war er einer der führenden illegalen Gewerkschafter, die nach England flüchteten. 


Im Exil beschäftigte sich Wirlandner zeitweise intensiv mit Fragen sozialistischer Wirtschafts- und Finanzpolitik im Nachkriegseuropa. Er sog die Lehren von Keynes auf und lernte das Wohlfahrtsstaatskonzept der Labour Party kennen. Viel davon transferierte er nach Österreich. Er wurde hier – wie einige andere Remigranten, etwa Kurt W. Rothschild – zu einem der einflussreichsten Verkünder des Keynesianismus. 

Wirlandner war wohl einer der aktivsten Österreicher im Exil-Widerstand. Ab 1943 leitete er eine Gruppe von österreichischen Exil-Sozialisten innerhalb des britischen Kriegsgeheimdienstes Special Operations Executive (SOE), der u. a. der Sozialwissenschafter Theo Neumann, der Journalist Walter Hacker und der Gewerkschafter Hans Hladnik angehörten. Diese versuchte von Istanbul, der Schweiz und Italien aus Kontakte zu GenossInnen in Österreich herzustellen 1).
Anfang Mai 1945 kehrte Wirlandner als erster Sozialist und Gewerkschafter aus dem Exil nach Österreich zurück. Durch seine frühe Rückkehr konnte er bereits an der Gründungsphase der AK und des ÖGB mitwirken. Als Vermittler zu den westlichen Alliierten machte sich Wirlandner in dieser Zeit unverzichtbar, in der SPÖ jedoch fand er keinen ausreichenden Rückhalt für die von ihm angestrebte politische Karriere. Es blieb ihm die ExpertInnenebene: Er verhandelte für die Arbeiterkammer zunächst die fünf Lohn- und Preisabkommen (1947–1951) und stellte schließlich die Weichen für eine koordinierte Lohn- und Preispolitik im Rahmen der Paritätischen Kommission, des Kernelements der österreichischen Sozialpartnerschaft. 
Stefan Wirlandner hat über sein vielfältiges Engagement im Exil und über seine Rückkehr zu Lebzeiten kaum erzählt. Um einen authentischen Eindruck zu vermitteln, wird im Folgenden erstmals ein Auszug aus seinen unveröffentlichten Erinnerungen vorgestellt, die in seinem privaten Nachlass enthalten sind. 

Der Textauszug setzt mit der Ankunft in Wien Anfang Juni 1945 ein:
(...) In den Jahren der „Emigration“ hatte ich oft das Problem gewälzt, wie man mich als Emigranten nach der Rückkehr aus dem „Westen“ in der Partei wieder aufnehmen würde. Meine Befürchtungen, daß es dabei Hemmungen geben könnte, erwiesen sich als unbegründet; man hatte zu mir Vertrauen (...). Nun mußte ich versuchen, in sogenannte „geregelte Bahnen“ zu kommen. Natürlich bot sich die Idee an, dort fortzusetzen, wo ich im März 1934 aufgehört hatte. (...) Ich begann mich also um die Arbeiterkammer zu kümmern, und mit (Josef) Staribacher, dessen Bekanntschaft ich über Bruno Pittermann gemacht hatte, begab ich mich in das alte Kammergebäude in der Ebendorferstraße 7, um uns einmal klar zu werden, wie die Wiederbelebung dieser Institution in die Wege zu leiten wäre. Pittermann war dabei sehr rührig und der zusammengetrommelte Restbestand des früheren Kammervorstandes betraute ihn mit der Funktion des Ersten Sekretärs. Arbeitsrechtler fanden sich, die sich um den Aufbau der sogenannten Rechtsabteilung, der sozialrechtlichen Abteilung bemühten, während ich mit Staribacher es übernahm, die Volkswirtschaftliche und Statistische Abteilung wieder auf die Beine zu stellen. Die erste Arbeit bestand allerdings darin, mit Hilfe einiger anderer williger Genossen, das Haus zu säubern, das zuletzt irgendeiner Kommandoeinheit der deutschen Luftwaffe als Quartier gedient hatte. (...)

Im Juni waren die Voraustruppen der britischen, französischen und amerikanischen Streitkräfte in Wien eingetroffen. Walter Hacker, Theo Neumann und ich gehörten unserem Status nach dem britischen Besatzungskorps an, und wir nahmen für uns in Anspruch, die ersten Angehörigen der westlichen Alliierten in Wien gewesen zu sein. (...) Für mich blieb bis zum Dezember 1945 manches offen. Ich hatte mich, ohne auf Formalitäten Rücksicht zu nehmen, vom britischen Armeeverband losgelöst, agierte selbstständig, stand dem ÖGB unter anderem auch als Dolmetscher zur Verfügung (...) und hatte mir schließlich im Kammergebäude selbst ein kleines Zimmer so ausgestattet, daß ich dort notdürftig leben konnte. (...)

Ich hatte hinter mir nichts als die Ausbildung in der Arbeiterhochschule, meine etwa siebenjährige Berufstätigkeit in der Statistischen Abteilung der Wiener Arbeiterkammer, meine Prüfungszeugnisse aus dem Ausbildungskurs der Hochschule für Welthandel (Buchprüfer) und recht gute Kenntnisse der Keynes’schen Lehre und jener Gruppe anerkannter Professoren, die sich zum Keynesianismus bekannten. Das konnte für eine Karriere in der Kammer ausreichen, musste es aber nicht. (...)
Wenige Wochen später waren die Vorbereitungen weit genug gediehen, um die Volkswirtschaftliche und Statistische Abteilung der Arbeiterkammer offiziell zu etablieren. Ich wurde zum Abteilungsleiter ernannt. Staribacher teilte sich mit mir die Arbeit. Von da ab gelang es mir, in einem immer stärkeren Maße die Position der Kammer und damit natürlich auch unsere eigene zu festigen. Die ersten wirtschaftlichen Orientierungsgespräche fanden statt zwischen der Leitung des Österreichischen Gewerkschaftsbundes und der Arbeiterkammer und den Alliierten, insbesondere den amerikanischen Stellen auf der einen Seite und den neu entstehenden Organisationen der Arbeitgeber (Industriellenvereinigung, Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft) auf der anderen Seite.
Durch mein Verhalten in der Zeit nach dem Februar 1934 hatte ich mir das uneingeschränkte Vertrauen der Gewerkschaftsführer, insbesondere des Genossen (Johann) Böhm gesichert. Meine Englischkenntnisse waren gut genug, um als Verbindungsmann zwischen den Arbeitnehmerorganisationen und den maßgeblichen britischen und amerikanischen Stellen zu fungieren. Von dieser Seite wurde ich aber wieder deshalb rückhaltlos akzeptiert, weil ich als Angehöriger der britischen Armee meine Einsatzbereitwilligkeit gegen das nazistische Regime unter Beweis gestellt habe. Ich konnte also auf beiden Seiten vermittelnd und erklärend wirken.
Natürlich waren die Beamten in den verschiedenen Ministerien bestrebt, dort wieder zu beginnen, wo sie 1934 aufgehört hatten. Ich schreckte nicht davor zurück, diesen Personengruppen klar zu machen, dass von nun ab mit der Existenz einer sehr einflussreichen wirtschaftlichen und politischen Vertretung der Arbeitnehmer gerechnet werden muß.

Die Karriere eines Abgeordneten blieb mir (...) versagt (...). Ich war enttäuscht, als ich diesen Durchfall zur Kenntnis nehmen mußte, hatte mich aber sehr rasch auf die Stellung eines Experten zurückgezogen, hatte dabei einiges Ansehen gewonnen, wurde einer ökonomischen Arbeitsgruppe zugezogen, die sich aus den zuständigen sozialistischen Ressortministerien, den Sprechern des Abgeordnetenklubs und einigen anderen Fachleuten zusammensetzte, und hatte damit auch die Zuziehung zu Klausurtagungen durchgesetzt.

Beruflich konnte ich meine Stellung in den folgenden Jahren festigen und ausbauen. Im Juni des Jahres 1948 wurde ich durch die Bundesregierung in die Kreditlenkungskommission berufen, einige Monate später in den Generalrat der Notenbank. Nun kam mir das Studium der Geld- und Kreditpolitik, das ich nach dem Verlassen der Arbeiterhochschule als „Hobby“ aufgenommen hatte und das ich [...] bis 1938 in Wien und später auch in der Emigration, sobald sich dazu Gelegenheit fand, fortgesetzt hatte, sehr zustatten. Im Jahr 1952 begann ich in der Arbeiterkammer mit dem Aufbau einer Wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung.“


Der Text zeigt anschaulich, mit welch zwiespältigen Gefühlen der Vertriebene aus dem Exil zurückkehrte, aber auch welche Enttäuschungen er erlebte: sprich welche Grenzen seinem Engagement gesetzt wurden und mit welchem Enthusiasmus und welcher Tatkraft er dennoch an die politische Arbeit heranging. Der Autor dankt Susanne Wirlandner für die Erlaubnis, den Textauszug zu veröffentlichen.


Internet: Weiterführende Literatur:
www.peterpirker.at
Schreiben Sie Ihre Meinungan den Autor
peter.pirker@univie.ac.at
oder die Redaktion
aw@oegb.at


1) Peter Pirker (2009). „Whirlwind“ in Istanbul. Geheimdienste und Exil-Widerstand am Beispiel Stefan Wirlandner.
In: DÖW-Jahrbuch 2009 –tinyurl.com/n9cbsy2



Wirtschaftsdemokratie – eine persönliche Meinung


Untertitel: Welche Grenzen und Chancen ich für eine

Wirtschaftsdemokratie sehe

Ein Artikel von Mag. Markus Gartner



Ich werde nun in aller Kürze eine persönliche Meinung zur Wirtschaftsdemokratie in essayistischer Art und Weise schreiben. Zunächst scheint es mir hierbei wichtig zu sein, dass ich die Grundlagen meiner Gesellschaftstheorie beschreibe und dann über Wirtschaftsdemokratie nachdenke.

Grundlegend für eine moderne Gesellschaft ist für mich der Diskurs. Unter Diskurs verstehe ich einen gesellschaftlichen, verbalen Prozess, der idealtypisch zu einem Konsens über gesellschaftliche Fragen führt. Es gibt dabei meines Erachtens sowohl geistige als auch materielle Voraussetzungen des Diskurses.
Zu den geistigen Voraussetzungen gehören für mich die Freiheit der Meinung und der Rede, die soziale und politische Gleichheit und ein solidarisches und tolerantes Verständnis von Gesellschaft.
Zu den materiellen Voraussetzungen gehören für mich genügend Essen, Trinken und Wohnraum für die Menschen. Sowohl die geistigen als auch die materiellen Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit Diskurse in der Gesellschaft funktionieren.

Zur Durchsetzung von diesen Voraussetzungen können in Rahmen von Diskursen Subsysteme der Gesellschaft geschaffen werden, in denen einzelne Diskursregeln außer Kraft gesetzt werden. Aufgrund der Kürze dieses Artikels will ich auf diese Diskursregeln nicht eingehen. Eine wichtige Diskursregel, die zum Verständnis des Folgenden mir notwendig erscheint, ist, dass Diskurse solange geführt werden müssen, bis ein Konsens erzielt wird.
 
Es braucht aber oft Regeln für gesellschaftsnotwendige Materien, bei denen nicht auf die Konsensfindung gewartet werden kann. Dafür wird das Subsystem „Politik“ geschaffen, das nach den Regeln der Demokratie funktioniert.
In demokratischen Entscheidungsfindungen genügen im Unterschied zu diskursiven Entscheidungsfindungen Mehrheitsbeschlüsse, die auf Kompromissen zwischen einzelnen Gruppen und Individuen beruhen – ein Konsens ist hierbei nicht notwendig. Güter und Dienstleistungen, die regelmäßig von den einzelnen Menschen benötigt werden, können auch von der in Diskursen notwendigen Konsensfindung ausgenommen werden, da sie die Menschen meist dringend benötigen und so nicht immer auf die Konsensfindung gewartet werden kann. Außerdem handelt es sich dabei oft um individuelle Fragen, die einen gesellschaftlichen Diskurs eigentlich gar nicht bedürfen.


Zur Herausnehmung von Gütern und Dienstleistungen aus der Konsensfindung wird das Subsystem „Wirtschaft“ geschaffen. Dieses funktioniert nach den Regeln des Marktes – vereinfacht gesagt also nach den Regeln von „Angebot“ und „Nachfrage“. Für die Bewertung von Gütern und Dienstleistungen und die Erstellung von Budgets der öffentlichen Hand benötigt man eine allgemeingültige Messeinheit.

Diese Messeinheit nennt man Geld. Das dahinter stehende Subsystem nennt man „Finanz- und Geldwesen“. Da es für alle anderen Subsysteme eine Werteinheit entwickelt, ist es sehr kompliziert die Regeln für dieses Subsystem festzulegen. Ich werde dies daher auch jetzt nicht tun.
Ich möchte nur festhalten, dass dieses Subsystem weder zu 100% nach den Regeln der Politik noch zu 100% nach den Regeln der Wirtschaft funktionieren kann.

Aufgrund des bis jetzt Geschriebenen werde ich kurz meine Meinung zu einer Wirtschaftsdemokratie kundtun. Für mich sind demokratische Elemente in der Wirtschaft nur zulässig, solange nicht die Regeln des Marktes außer Kraft gesetzt werden, da der Markt am Besten auf individuelle Bedürfnisse reagieren kann. Unter dieser Voraussetzung würde ich demokratische Elemente in der Wirtschaft sogar begrüßen, da ich der Meinung bin, dass so der Einzelne im Betrieb auch in der Organisation mitreden kann und so auch im Alltag die Möglichkeit zur Diskussion und teilweise sogar zum Diskurs besteht.
So können Diskussionen und Diskurse im Alltag eingeübt werden.

Ich bin der Meinung, dass die ArbeitnehmerInnen in den Betrieben mindestens genauso viel Macht haben sollten wie die ArbeitgeberInnen, da sie die Mehrheit sind und daher folglich besser wissen was am Markt benötigt wird. Demokratie halte ich daher in den einzelnen Betrieben für sinnvoll.
In der gesamten Wirtschaft würde sie aber meiner Meinung nach die Prinzipien des Marktes außer Kraft setzen, da sie im Unterschied zum Markt in erster Linie auf Kompromissen und Mehrheitsentscheidungen beruht. Schließlich bin ich der Meinung, dass die Wirtschaft eines von vielen gleichberechtigten Subsystemen der Gesellschaft ist und daher nicht dominant sein soll.
Es ist letztlich eine diskursive Gesellschaft und keine Marktgesellschaft anzustreben.
  

Montag, 13. April 2015

James K. Galbraith: Normale Prosperität wird es nicht mehr geben


Starökonom James K. Galbraith über sein neues Buch “The End of Normal” und seine Beratertätigkeit für die griechische Syriza-Regierung. Der Falter, März 2015


“Normale Prosperität (wirtschaftlicher Aufschwung) wird es nicht mehr geben”

James K. Galbraith, 63, ist einer der führenden amerikanischen Volkswirtschaftler.
Er forscht und unterrichtet an der University of Texas in Austin. Dorthin engagierte er 2013 seinen Freund Yanis Varoufakis, den nunmehrigen griechischen Finanzminister. Galbraith, der der Sohn des legendären US-Ökonomen John K. Galbraith ist, amtiert zudem als Vorstandsmitglied der “World Economists Association”. Jüngst erschien sein Buch “The End of Normal”, in dem er ein düsteres Bild über die Krisentendenzen der Weltwirtschaft zeichnet.
Sie waren unmittelbar nach dem Wahlsieg von SYRIZA in Athen. Wie war die Stimmung?
Galbraith: Ich war Anfang Februar in Athen und später dann bei den Verhandlungen in Brüssel dabei. Die Stimmung in Athen war unbeschreiblich. Es herrschte plötzlich ein Gefühl des Stolzes und der wiedererlangten Würde, und zwar unter ganz normalen Griechen. Sie hatten das bisherige Verhältnis zu Europa als demütigend empfunden, und man spürte, wie das mit einem Mal abfiel. Man spürte auch die Freude, dass man das bisherige Kartell der regierenden Parteien endlich los ist.
Darüber haben sich also nicht nur politisch linksorientierte Anhänger von SYRIZA gefreut?
Galbraith: Es ging um viel grundlegendere Psychologie – dass die Leute bisher das Gefühl hatten, nicht mehr Herr im eigenen Haus zu sein. Das war auch ein ganz wichtiger Faktor dafür, dass die Wahlen überhaupt so ausgingen.
Sie hatten schon erwähnt, dass Sie dann in Brüssel bei den entscheidenden Verhandlungen mit der Eurogruppe mitgeholfen hatten, als eine Art Berater…
Galbraith: Berater ist wohl etwas übertrieben, ich wollte ein wenig hilfreich sein. Wir waren in einem Arbeitsraum, und haben Yanis Varoufakis und seinen Mitarbeitern geholfen, sei es, gewisse Formulierungen zu finden, sei es, die Folgen mancher Vorschläge abzuschätzen.
Ein Thriller?
Galbraith: Die deutsche Position war im Grunde bis zur letzten Minute, dass sie keinen Millimeter an Abkehr von allen bisherigen Abmachungen akzeptieren werden. Sie saßen mit entsicherter Pistole da und sagte im Grunde: Unterschreibt oder haut ab. Aber es war natürlich klar, dass es Bewegungsspielraum gibt, wenn die griechische Seite die rechtlichen Anforderungen erfüllt, die nun einmal durch die Verträge in der Eurozone gegeben sind und auch gewisse politische Zwänge ihrer Partner im Auge hat. Und genau das ist dann auch rausgekommen.
Also das Abkommen war grosso modo ein Erfolg?
Galbraith: Ja, es war auf jeden Fall positiv, es ist natürlich bei weitem nicht klar, ob es wirklich zu einem Ergebnis führt, das die Situation in Griechenland stabilisieren kann. Es ist ja nur eine Atempause und gibt Raum für die Verhandlungen, die ab jetzt stattfinden.
In einem Interview haben Sie gesagt, der einzige Finanzminister, der bestimmt, ist Wolfgang Schäuble. Ist das wirklich so, dass die anderen sich nur an Schäuble orientieren oder gar versuchen, heimliche Winks von Schäuble wahrzunehmen?
Galbraith: Natürlich nicht: Erstens gibt es einen Finanzminister, der Schäuble auch widerspricht, und das ist Yanis Varoufakis. Zweitens ist es natürlich nicht so, dass nicht auch andere eine Position formulieren, aber das letzte Wort hat Schäuble. Das ist völlig klar. Und am Ende hängen Kompromisse vom Manöver der deutschen Regierung ab. Schäuble spielte den Harten, Vizekanzler Siegmar Gabriel hat ihn dafür sogar sanft kritisiert und am Ende konnte sich Angela Merkel im direkten Gespräch mit Alexis Tsipras als die Versöhnliche darstellen. Und Schäuble konnte dann im Bundestag das Ergebnis als Resultat seiner Prinzipientreue präsentieren. Man kann das alles aus deutscher Sicht total nachvollziehen.
Was natürlich auch heißt: Jede Regierung in der Eurozone spielt für ihre eigene “nationale Galerie” – was ja auch eines der Probleme der Eurozone ist.
Galbraith: Selbstverständlich. Das geht ja noch weiter. Die spanische Regierung und die portugiesische Regierung haben eine absolute Hardlinerhaltung eingenommen, weil sie von Bewegungen herausgefordert werden, die SYRIZA ähneln. Das heißt, Regierungen, die heute in Umfragen bei weniger als 20 Prozent liegen, haben sich alleine aus innenpolitischen Erwägungen unbeugsam gegeben. Diese Regierungen wollen natürlich jeden SYRIZA-Erfolg verhindern. Darüber hinaus ist die Situation in Griechenland natürlich extrem angespannt, weil die Regierung Liquiditätsprobleme hat. Also, der Kompromiss war ein Erfolg, aber ob er die Situation in Griechenland stabilisieren kann, ist absolut nicht gesagt.
Vor allem in der deutschsprachigen Presse wird jetzt die Storyline präsentiert, Varoufakis sei zu aggressiv, zu radikal, er gieße Öl ins Feuer, stoße mögliche Verbündete vor dem Kopf und ähnliches. Ist da was dran?
Galbraith: Ach, das ist doch nur Propagandaklimbim. Klar, Varoufakis hat einen der härtesten Jobs der Welt im Moment. Und er ist einer der Fähigsten in Europa. Die Art, wie er spricht, die ist von einer Klarheit und auch ungeschminkten Wahrhaftigkeit, die natürlich äußerst unüblich in offiziellen Kreisen ist, damit auch überraschend und irritierend. Das Lustige ist, dass das sogar manche Journalisten verstört, die es offenbar als normal ansehen, dass man sie mit nichtssagenden Formeln abspeist.
Sie haben in Texas mit Yanis Varoufakis die vergangenen Jahre eng zusammen gearbeitet: Wie würden Sie ihn charakterisieren?
Galbraith: Ich mag und bewundere ihn. Er ist ein großartiger Intellektueller, ein glasklarer Schreiber. Er hat Analysen von unglaublicher Klarheit geschrieben, wohl mehrere Millionen Wörter allein über die Eurokrise in den vergangenen Jahren. Jeder kann sich selbst ein Bild machen und das nachlesen.
Gibt es eigentlich eine gute Lösung, sowohl für Griechenland als auch für die Eurozone, die sich ja auch seit sieben Jahren in einer Depression und Stagnation befindet, mit niedrigem Wachstum, explodierender Ungleichheit und wachsenden Schuldenständen?
Galbraith: Für Griechenland ist das beste, was man sich vorstellen kann, dass man Zeit kauft, dass die Banken nicht kollabieren, zudem muss man institutionelle Reformen vornehmen, die auch Zeit brauchen und man muss unmittelbar die humanitäre Katastrophe bekämpfen. Wäre das schon eine ökonomische Erholung? Nein. Eher nur eine Stabilisierung. Wenn wir uns die europäische Situation ansehen, die von sieben Jahren Austerität und Stagnation geprägt ist, so kann man sich natürlich kaum vorstellen, dass sich Griechenland alleine aus dieser Spirale befreien kann. Die Frage wäre also: Wie kann man sich einen Weg Richtung Prosperität für ganz Europa vorstellen?
Sie sind ja generell nicht sehr optimistisch. Schluss mit Austerity ist eindeutig nicht genug, das ist die Botschaft ihres jüngsten Buches “The End of Normal”.
Galbraith: Gerade die Europäische Union bräuchte eigentlich einen Totalumbau jener Institutionen, die während der Phase neoliberaler Dominanz errichtet worden sind – die Organisation der Währungsunion, das innereuropäische Regelwerk. Es bräuchte ganz massive Investitionen in jeder einzelne der europäischen Volkswirtschaften um wieder Prosperität zu ermöglichen.
In Ihrem Buch kritisieren Sie auch die linksliberalen keynesianischen Frontkämpfer wie Paul Krugman und Joseph Stiglitz – die würden letztlich nicht weit genug gehen. Ihre Meinung ist: Deren Vorschläge reichen nicht aus, um die kaputte Maschine zu reparieren. Wieso?
Galbraith: Die Finanzmaschine ist kaputt, mit allen Folgewirkungen auf Konjunktur und Wachstumsaussichten. Einfach Geld reinschütten nützt da nicht viel. Es spielen viele Strukturveränderungen der letzten Jahrzehnte hinein: Die technologische Revolution, die Volatilität und der Anstieg der Energiepreise, sobald es nur zu ein wenig Wachstum kommt. Das heißt, knapp gesagt, dass die Annahme falsch ist, wir bräuchten nur einen Kickstart der Ökonomie und schon gibt es wieder eine “normale Prosperität”, sondern die Vorstellung einer solchen “Normalität” ist selbst heutzutage fragwürdig.
Aber vieles was Sie vorschlagen sagen Krugman und Stiglitz ja auch…
Galbraith: Ja, klar, ich will doch gar keinen Streit vom Zaun brechen. Joe und Paul sind Kampfgefährten und Freunde, aber wir sehen eben ein paar Dinge anders. Ich würde sagen, ich denke deutlich institutionenorientierter als sie es tun. Und das ist Folge eines anderen theoretischen Rahmens, eines anderen Modells, wie man sich das Funktionieren der Ökonomie vorstellt. Der traditionelle Keynesianismus denkt primär in Strömen von Kapital, Geld, Ressourcen, und achtet weniger auf die Funktionstüchtigkeit der vorhandenen Institutionen. Dass die funktionieren, das setzt er voraus und hält es daher für eine uninteressante Frage. Aber das sind diskutierbare Meinungsunterschiede, es soll aber jetzt um Gottes Willen nicht der Eindruck entstehen, ich würde Paul oder Joe angreifen – die beiden tun viel Gutes in der Welt mit ihrem Engagement und der Verve, mit der sie sich in intellektuelle Kämpfe stürzen.
Das Panoptikum an Krisensymptomen, das Sie analysieren, die da sind: ein dysfunktionales Finanzsystem, ein Überhang an Verschuldung, die endemische Korruption, gleichzeitig schwaches Wachstum, immer mehr Ungleichheit, die Energiekrise, das Ende der amerikanischen Hegemonie, die digitalen Innovationen, die, anders als frühere technologische Revolutionen, die alte Jobs zerstörten aber auch sehr viele neue schafften, in erheblichem Maße nur mehr Jobs zerstören, drängt die Frage auf; kommt der Kapitalismus wie wir ihn kannten, an ein Ende?
Galbraith: Katastrophentheoretiker bin ich aber keiner!
…es muss ja kein Zusammenbruch sein, es kann ja auch eine Phase des sukzessiven Niederganges sein…
Galbraith: Eine solche Stagnationsperiode ist tatsächlich eine Gefahr. Aber die Frage, die ich in dem Buch aufwerfe, ist keine pessimistische, sondern ich versuche ja gerade Antworten anzudeuten, wie mit einer solchen Situation umgegangen werden muss, in der die Schwierigkeiten deutlich größer sind als wir sie je erlebt haben in den vergangenen 80 Jahren. Die Antwort ist, wir müssen erstens sehr viel effizienter mit allen Ressourcen umgehen. Superreichen Phantasiegehälter zu bezahlen ist ja nicht nur ungerecht, es ist ja auch ein verschwenderischer Umgang mit der Ressource Geld. Wir werden viel stärker die Bedürfnisse der verwundbarsten Mitglieder unserer Gesellschaft im Auge haben müssen. Wenn der Wohlstand schnell und steil ansteigt, ist das alles einfacher: Ich kann soziale Sicherheit für die breite Mehrheit und den Reichtumszuwachs für die Privilegierten finanzieren. Das ist ja kein Problem in so einem Fall. Aber was tut man, wenn die Wachstumskurve Richtung Null geht? Dann türmen sich enorme Risiken für die Stabilität unserer Gesellschaften auf.



Quelle: 

Der Falter, März 2015 
James K. Galbraith 
misik.at  
Robert Misik – Journalist und Sachbuchautor

Sonntag, 12. April 2015

YANIS VAROUFAKIS - #10 - Der pragmatische Marxist

Braucht es eine Austro-Syriza?
... interessant und nicht bloß eine Leseempfehlung, das ist eine Leseverpflichtung!


1 - Rettet den Kapitalismus!
2 - Unberechenbar im eigenen Marxismus
3 - Marx’ bemerkenswerte Analyse
4 - Die Freiheit der Neoliberalen
5 - Warum ein unorthodoxer Marxist?
6 - Die Erkenntnis von Keynes
7 - Die Lektion von Margaret Thatcher
8 - Was sollten MarxistInnen tun?
9 - Bündnisse mit dem Teufel
10 - Der pragmatische Marxist



Seit dem 27. Januar 2015 ist Yanis Varoufakis (53) Finanzminister in der griechischen Regierung von Alexis Tsipras. Damit steht ein profilierter Intellektueller und Marxist an der Spitze einer krisenhaften kapitalistischen Volkswirtschaft.
Varoufakis dissertierte im Jahr 1982 mit einer Arbeit zur Spieltheorie in der Ökonomie und machte dann eine akademische Karriere. Mit der Eurokrise wurde er einer der profiliertesten Kritiker des folgenden Spardiktats der Troika. In Büchern und einem weitherum beachteten Blog legte er eine alternative Sichtweise zu Verschuldung und Austeritätspolitik vor. 2013 veröffentlichte er gemeinsam mit Stuart Holland und James K. Galbraith «A Modest Proposal for Resolving the Eurozone Crisis».

Yanis Varoufakis:
Bescheidener Vorschlag zur Lösung der Eurokrise
http://bilgungwissen.blogspot.co.at/2015/02/yanis-varoufakis-bescheidener-vorschlag.html


Der hier vorgelegte Text ist Mitte 2013 entstanden. Varoufakis analysiert darin die aktuelle Krise, er zeigt, wie sie marxistisch gedacht werden kann, und er spricht über eine widerständige Politik. Indem er seine eigene Haltung reflektiert, steht dieses «Bekenntnis» durchaus in der Tradition von Jean-Jacques Rousseau: radikal subjektiv und radikal gesellschaftsbezogen. Und es macht deutlich, wie Varoufakis als Finanzminister mit Theorie und Praxis, mit Radikalismus und Reform umzugehen gedenkt.

Donnerstag, 9. April 2015

YANIS VAROUFAKIS - #9 - Bündnisse mit dem Teufel

Braucht es eine Austro-Syriza?
... interessant und nicht bloß eine Leseempfehlung, das ist eine Leseverpflichtung!

1 - Rettet den Kapitalismus!
2 - Unberechenbar im eigenen Marxismus
3 - Marx’ bemerkenswerte Analyse
4 - Die Freiheit der Neoliberalen
5 - Warum ein unorthodoxer Marxist?
6 - Die Erkenntnis von Keynes
7 - Die Lektion von Margaret Thatcher
8 - Was sollten MarxistInnen tun?
9 - Bündnisse mit dem Teufel
10 - Der pragmatische Marxist


Bündnisse mit dem Teufel

Mein zweites Geständnis ist sehr persönlich: Ich weiss, dass ich riskiere, heimlich die Trauer zu lindern, die mich erfasst, da ich jede Hoffnung auf die Überwindung des Kapitalismus in meiner Lebenszeit aufgebe, und zwar indem ich das Gefühl züchte, akzeptabel für die gute Gesellschaft zu werden.

Das Gefühl der Selbstzufriedenheit, von den Einflussreichen umhegt zu werden, ist gelegentlich in mir aufgestiegen. Und welch ein unradikales, hässliches, korrumpierendes und zerstörerisches Gefühl war es!

Meinen persönlichen Tiefpunkt erlebte ich in einem Flughafen. Irgendeine reiche Institution hatte mich eingeladen, an einer Tagung den Hauptvortrag über die europäische Krise zu halten, und eine wahnwitzige Summe aufgeworfen, um mich erster Klasse einfliegen zu lassen.

Auf dem Rückweg, erschöpft nach mehreren Flügen, schritt ich der langen Reihe der Passagiere der Economy Class entlang, um zum Gate zu gehen. Plötzlich bemerkte ich mit Schrecken, wie einfach in mir das Gefühl aufkam, berechtigt zu sein, die Masse zu überholen.
Ich merkte, wie einfach ich das vergessen konnte, was mein linker Verstand immer gewusst hatte: dass sich nichts besser bestätigt als ein falsches Gefühl der Berechtigung.

Allianzen mit reaktionären Kräften zu bilden, wie wir es meines Erachtens tun sollten, um Europa heute zu stabilisieren, führt uns in Versuchung, vereinnahmt zu werden, unseren Radikalismus durch den warmen Schein des Gefühls aufzuheben, in den Korridoren der Macht angekommen zu sein.


Ein radikales Bekenntnis, wie ich es hier zu schreiben versucht habe, ist vielleicht das einzige programmatische Gegenmittel zu ideologischen Rutschpartien, die uns zu Rädchen in der Maschine zu machen drohen.

Falls wir Bündnisse mit dem Teufel eingehen (zum Beispiel mit dem Internationalen Währungsfonds, mit Neoliberalen, die sich immerhin dem entgegensetzen, was ich «Bankruptokratie» nennen würde), müssen wir verhindern, so zu werden wie jene SozialistInnen, die die Welt nicht zu verändern vermochten, aber dabei ihre eigenen Lebensumstände verbessern konnten.
Wir müssen den revolutionären Maximalismus vermeiden, der letztlich den Neoliberalen hilft, jeden Widerstand gegen ihre selbstzerstörerische Gemeinheit zu umgehen, und wir müssen uns der inhärenten Hässlichkeit des Kapitalismus bewusst bleiben, während wir, aus strategischen Gründen, versuchen, ihn vor sich selbst zu retten.

Radikale Bekenntnisse mögen dabei helfen, dieses schwierige Gleichgewicht zu finden. Schliesslich ist der marxistische Humanismus ein ständiger Kampf gegen das, was wir werden.


Dienstag, 7. April 2015

Sozialismus und der Kampf gegen imperialistischen Krieg

Erklärung des Internationalen Komitees der Vierten Internationale

1. Hundert Jahre nach Ausbruch des Ersten und 75 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs bedroht das imperialistische System die Menschheit erneut mit einer Katastrophe.

2. Seit dem Zusammenbruch des globalen Kapitalismus, der 2008 einsetzte, haben die imperialistischen Mächte ihren Wettlauf um die räuberische Neuaufteilung der Welt stark beschleunigt. In den zwei Jahrzehnten seit der Auflösung der Sowjetunion haben die imperialistischen Großmächte bereits Millionen Menschen auf dem Balkan, im Nahen Osten, in Zentralasien und in Afrika mit Tod und Zerstörung überzogen.
Immer wieder stellten sie ihre Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leid unter Beweis. Jetzt hat die Krise des Imperialismus ein qualitativ neues Stadium erreicht und die Großmächte gehen das Risiko eines Atomkriegs ein.

3. Die Gefahr eines neuen Weltkriegs ergibt sich aus dem grundlegenden Widerspruch des kapitalistischen Systems, dem Widerspruch zwischen der Globalisierung der Wirtschaft und ihrer Aufspaltung in antagonistische Nationalstaaten, die die Grundlage für das Privateigentum an den Produktionsmitteln bilden.
Besonders deutlich zeigt sich dies im Bestreben des US-Imperialismus, die eurasische Landmasse zu beherrschen, insbesondere jene Gebiete, die seinem Einfluss nach der russischen und der chinesischen Revolution jahrzehntelang entzogen waren.
Im Westen haben die USA im Bunde mit Deutschland einen von Faschisten angeführten Putsch organisiert, um die Ukraine unter ihre Kontrolle zu bringen.
Ihre eigentlichen Ziele sind aber weiter gesteckt: Es geht um die Aufspaltung der Russischen Föderation und ihre Verwandlung in eine Reihe von Halbkolonien, um den Weg für die Plünderung umfangreicher Rohstoffvorkommen freizumachen.
Im Osten zielt die Obama-Regierung mit ihrer Orientierung auf Asien („Pivot to Asia“) darauf ab, China einzukreisen und in eine Halbkolonie zu verwandeln. Hier geht es um den Zugriff auf die billigen chinesischen Arbeitskräfte, eine der weltweit wichtigsten Quellen des Mehrwerts, den die kapitalistische Wirtschaft aus der Arbeiterklasse saugt.

4. Im Moment verfolgt die amerikanische Regierung ihre Ziele gemeinsam mit den anderen großen imperialistischen Mächten. Aber ihre Interessen stimmen nicht auf Dauer überein.
Der deutsche Imperialismus
, der im 20. Jahrhundert zweimal gegen die USA Krieg geführt hat, findet zu seinen früheren Großmachtambitionen zurück.
Nachdem er sich in Westeuropa eine Vormachtstellung verschafft hat, strebt er nun eine Position als Weltmacht an.
Ebenso rüstet Japan in Asien auf, um seine lang erstrebte regionale Hegemonie zu errichten. Um diese Wende zu rechtfertigen, wird systematisch daran gearbeitet, die monströsen Verbrechen der Nazis und der kaiserlichen japanischen Armee in den 1930er und 1940er Jahren zu beschönigen.
5. Alle imperialistischen Mächte, einschließlich Englands, Frankreichs, Kanadas und Australiens, nehmen mit aller Kraft am Kampf um Einflusssphären teil.
Um jeden Winkel der Erde werden bittere Konflikte ausgetragen: nicht nur um die früheren Kolonien und Halbkolonien des Nahen Ostens, Afrikas und Asiens, sondern ebenso um die Arktis und Antarktis, ja sogar um das Weltall und den Cyberspace. Diese Konflikte heizen ihrerseits Spannungen an, die sich in separatistischen Bestrebungen, ethnischen Spaltungen und Kämpfen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen entladen.

6. Die russischen und chinesischen Regime stellen kein Gegengewicht zur imperialistischen Kriegstreiberei dar. Beide vertreten eine kriminelle Oligarchie, die aus der Restauration des Kapitalismus durch die stalinistischen Bürokratien hervorgegangen ist, und verteidigen ausschließlich deren Interessen. Sie tragen nicht nur die politische Verantwortung für die furchtbaren Gefahren, die den russischen und chinesischen Massen drohen, sondern schüren auch Nationalismus, um die Arbeiterklasse zu spalten.

7. Wenn die internationale Arbeiterklasse nicht auf der Grundlage eines revolutionären marxistischen Programms eingreift, ist ein weiteres imperialistisches Blutbad nicht nur möglich, sondern auch unvermeidlich. Die Ursache für die zwei Weltkriege des 20. Jahrhunderts lag im Widerspruch zwischen der Weltwirtschaft und dem historisch überholten Nationalstaatensystem.
Alle imperialistischen Länder versuchten, diesen Widerspruch durch den Kampf um die eigene Vormachtstellung in der Welt zu lösen. Die Globalisierung der Produktion in den vergangenen drei Jahrzehnten hat zu einem weiteren qualitativen Sprung bei der Integration der Weltwirtschaft geführt und damit die Grundwidersprüche des Kapitalismus erneut auf die Spitze getrieben.

8. Der Zusammenprall der imperialistischen und nationalstaatlichen Interessen beweist, dass es im Kapitalismus unmöglich ist, die weltweit integrierte Wirtschaft vernünftig zu organisieren und so für eine harmonische Entwicklung der Produktivkräfte zu sorgen. Zugleich erzeugen dieselben Widersprüche, die den Imperialismus an den Rand des Abgrunds treiben, die objektiven Triebkräfte für die soziale Revolution. Die Globalisierung der Produktion hat zu einem massiven Wachstum der Arbeiterklasse geführt. Nur diese soziale Kraft, die an keine Nation gebunden ist, kann das Profitsystem und damit die Ursache von Krieg beenden.

9. Alle großen Probleme der Arbeiterklasse – die wachsende soziale Ungleichheit, die zunehmend autoritären Herrschaftsformen – sind untrennbar mit diesem Kampf verbunden.
Es kann keinen Kampf für Sozialismus ohne Kampf gegen Krieg geben, und umgekehrt keinen Kampf gegen Krieg ohne Kampf für Sozialismus. Die Arbeiterklasse muss sich der Kriegsgefahr entgegenstellen und die Jugend und die unterdrückten Massen unter einem sozialistischen Programm anführen. Sie muss die politische Macht übernehmen, die Banken und großen Konzerne enteignen und beginnen, eine Weltföderation von Arbeiterstaaten aufzubauen.

10. Das IKVI stellt den Kampf gegen Krieg in den Mittelpunkt seiner politischen Arbeit. Es muss zum internationalen Zentrum der revolutionären Opposition gegen das Wiederaufleben von imperialistischer Gewalt und Militarismus werden.
Keine andere Organisation hat sich diese Aufgabe auch nur gestellt. Unzählige frühere Pazifisten, Liberale, Grüne und Anarchisten haben sich unter dem falschen Banner der Menschenrechte der imperialistischen Kriegstreiberei angeschlossen. Ähnliches gilt für pseudolinke Tendenzen wie die Pablisten und die Staatskapitalisten, die sich erst über einen „reflexhaften Anti-Imperialismus“ mokierten und sich dann hinter die amerikanische Aggression gegen Russland und China stellten.

11. Der Aufbau der Vierten Internationale unter der Führung des Internationalen Komitees ist die zentrale strategische Aufgabe. Dies ist der einzige Weg, auf dem die Arbeiterklasse international vereint werden kann. Die Online-Veranstaltung am 4. Mai, an der Arbeiter und Jugendliche aus 92 Ländern teilnahmen, hat deutlich gemacht, dass das IKVI für seine revolutionäre Perspektive immer mehr Unterstützung gewinnt und das Potenzial hat, sich zur Weltpartei der sozialistischen Revolution zu entwickeln. Die Aufgabe des IKVI besteht nun darin, in neuen Ländern und Regionen der Welt Sektionen aufzubauen.
Verabschiedet vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale am 9. Juni 2014.


Quelle:
World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale (IKVI)



Donnerstag, 2. April 2015

YANIS VAROUFAKIS - #8 - Was sollten MarxistInnen tun?

Braucht es eine Austro-Syriza?

... interessant und nicht bloß eine Leseempfehlung, das ist eine Leseverpflichtung!

1 - Rettet den Kapitalismus!

2 - Unberechenbar im eigenen Marxismus
3 - Marx’ bemerkenswerte Analyse
4 - Die Freiheit der Neoliberalen
5 - Warum ein unorthodoxer Marxist?
6 - Die Erkenntnis von Keynes
7 - Die Lektion von Margaret Thatcher
8 - Was sollten MarxistInnen tun?
9 - Bündnisse mit dem Teufel
10 - Der pragmatische Marxist


Europas Eliten verhalten sich heute so, als ob sie weder die heutige Krise verstünden, die sie verantworten, noch deren Konsequenz für sich selbst, geschweige denn für die europäische Zivilisation.
Urtümlich primitiv, entscheiden sie, die schwindenden Reserven der Schwachen und der Beraubten zu plündern, um die klaffenden Lücken im Finanzsektor zu stopfen, und sie weigern sich, die Unmöglichkeit der Aufgabe anzuerkennen.


Aber obwohl Europas Eliten die Augen verschliessen und sich in Auflösung befinden, muss die Linke eingestehen, dass sie schlicht nicht bereit ist, jenen Graben, der sich durch den Kollaps des europäischen Kapitalismus auftun würde, mit einem funktionierenden sozialistischen System zu überbrücken.

Deshalb sollte unsere Aufgabe in zweierlei bestehen:
erstens, eine Analyse der gegenwärtigen Situation zu liefern, die auch NichtmarxistInnen, wohlmeinende EuropäerInnen, die vom Sirenengesang des Neoliberalismus verführt wurden, hilfreich finden. Zweitens, dieser vernünftigen Analyse Vorschläge folgen zu lassen, um Europa zu stabilisieren – damit die Spirale des Niedergangs gestoppt werden kann, der letztlich nur die Bigotten stärkt.


Das haben wir mit dem «Bescheidenen Vorschlag» *) zu tun versucht. Wenn wir ein unterschiedliches Publikum von radikalen Aktivistinnen bis Hedgefondsmanagern ansprechen, dann steht dahinter die Idee, strategische Allianzen sogar mit Rechten zu schmieden, mit denen wir ein einfaches Interesse teilen: das Interesse, die negative Rückkoppelung zwischen Austerität und Krise, zwischen bankrotten Staaten und zerbrochenen Rücken zu beenden.
Eine Rückkoppelung, die sowohl den Kapitalismus wie jedes progressive Programm untergräbt, das ihn ersetzen will.

So verteidige ich meine Versuche, für die Sache des «Bescheidenen Vorschlags» Leute von Bloomberg oder von der «New York Times», britische Tory-ParlamentarierInnen und Financiers zu gewinnen, die über den prekären Zustand Europas besorgt sind.


Lassen Sie mich mit zwei Bekenntnissen enden.
Erstens: Obwohl ich gerne bereit bin, ein gemäßigtes Programm zur Stabilisierung eines Systems, das ich kritisiere, als wirklich radikal zu verteidigen, gebe ich doch nicht vor, davon begeistert zu sein. Es mag wohl das sein, was wir unter den gegebenen Umständen tun müssen, aber ich bin traurig darüber, dass ich vermutlich nicht mehr hier sein werde, wenn ein radikaleres Programm zur Debatte steht.


Mein zweites Geständnis ist sehr persönlich ... 




*) Bescheidener Vorschlag siehe unter


http://bilgungwissen.blogspot.com/2015/02/yanis-varoufakis-bescheidener-vorschlag.html

Mittwoch, 1. April 2015

YANIS VAROUFAKIS - #7 Die Lektion von Margaret Thatcher


Braucht es eine Austro-Syriza?

... interessant und nicht bloß eine Leseempfehlung, das ist eine Leseverpflichtung!
1 - Rettet den Kapitalismus!
2 - Unberechenbar im eigenen Marxismus
3 - Marx’ bemerkenswerte Analyse
4 - Die Freiheit der Neoliberalen
5 - Warum ein unorthodoxer Marxist?
6 - Die Erkenntnis von Keynes
7 - Die Lektion von Margaret Thatcher
8 - Was sollten MarxistInnen tun?
9 - Bündnisse mit dem Teufel
10 - Der pragmatische Marxist

Ich zog im September 1978 für das Studium nach England, etwa sechs Monate bevor Margaret Thatchers Sieg Britannien für immer veränderte. Während ich zusah, wie die Labour-Regierung unter dem Gewicht ihres verkümmerten sozialdemokratischen Programms zerfiel, erlag ich einem gravierenden Irrtum: Ich dachte, dass Thatchers Sieg gut sei, weil er der britischen Arbeiterklasse und dem Mittelstand einen kurzen, scharfen Schock versetzen würde, der nötig war, um eine progressive Politik wiederzubeleben; der der Linken eine Chance gebe, ein neues, radikales Programm für eine neue Art wirksamer, progressiver Politik zu schaffen.
Selbst als sich die Arbeitslosigkeit unter Thatchers radikalen neoliberalen Eingriffen verdoppelte und dann verdreifachte, hegte ich weiterhin die Hoffnung, dass Lenin recht habe: «Je schlimmer, desto besser.»

Als das Leben schmutziger, brutaler und für manche kürzer wurde, erkannte ich meinen tragischen Irrtum: Die Dinge konnten immer schlechter werden, ohne dass sie je besser wurden. Mit jeder Schraubendrehung der Rezession wurde die Linke noch etwas introvertierter und noch weniger fähig, ein überzeugendes progressives Programm zu entwickeln. Die Arbeiterklasse wurde gleichzeitig gespalten in diejenigen, die aus der Gesellschaft ausschieden, und diejenigen, die ins neoliberale Gedankensystem eingesogen wurden.
Meine Hoffnung, dass die Verschlechterung der «objektiven Bedingungen» irgendwie neue «subjektive Bedingungen» schaffe, denen eine politische Revolution entspringe, war schlicht Unsinn.
Alles, was dem Thatcherismus entsprang, waren Kleinkriminelle, eine extreme Aufwertung des Finanzmarkts, der Triumph der Einkaufszentren über den Quartierladen, die Verherrlichung des Eigenheims und … Tony Blair.
Mrs. Thatcher erteilte mir eine harte Lektion darüber, dass eine lang andauernde Rezession jede progressive Politik zu untergraben und die Menschenfeindlichkeit ins Gewebe der Gesellschaft zu tragen vermag. Diese Lektion vergesse ich auch angesichts der gegenwärtigen europäischen Krise nicht. Tatsächlich ist sie der wichtigste Faktor meiner Einschätzung der Krise. Dies ist der Grund, warum ich jene Sünde offen eingestehe, deren mich einige KritikerInnen aus der Linken bezichtigen: die Sünde, kein radikales politisches Programm zu vertreten, das die Krise als Gelegenheit begreift, den europäischen Kapitalismus umzustürzen, die grässliche Eurozone aufzulösen und die EU der Kartelle und bankrotten Banker zu untergraben.
Ja, ich würde liebend gerne ein solch radikales Programm vorstellen. Aber ich bin nicht bereit, denselben Irrtum zweimal zu begehen.
Ein griechischer oder portugiesischer oder italienischer Ausstieg aus der Eurozone würde bald zu einer Fragmentierung des europäischen Kapitalismus führen mit einer in einer starken Rezession steckenden Überflussregion östlich des Rheins und nördlich der Alpen, während der Rest von Europa sich im Griff einer unerträglichen Stagflation befände.  - Wer würde wohl von dieser Entwicklung profitieren?
 - Eine progressive Linke, die wie ein Phönix aus der Asche der europäischen öffentlichen Institutionen steigt?
 - Oder die Nazis der Goldenen Morgenröte, die verschiedenen NeofaschistInnen, die Xenophoben und die Kleinkriminellen?
Ich zweifle keinen Augenblick daran, welches von den beiden Lagern am meisten vom Zerfall der Eurozone profitieren würde.
Deshalb bin ich nicht bereit, dieser postmodernen Version der dreissiger Jahre neuen Schub zu verleihen.
Falls das heisst, dass wir, die angemessen unorthodoxen MarxistInnen, den europäischen Kapitalismus vor sich selbst retten müssen, dann ist es halt so.
Nicht aus Liebe für den europäischen Kapitalismus, für die Eurozone, für Brüssel oder die Europäische Zentralbank, sondern weil wir die menschlichen Opfer dieser Krise möglichst gering halten wollen.