Mittwoch, 1. April 2015

YANIS VAROUFAKIS - #7 Die Lektion von Margaret Thatcher


Braucht es eine Austro-Syriza?

... interessant und nicht bloß eine Leseempfehlung, das ist eine Leseverpflichtung!
1 - Rettet den Kapitalismus!
2 - Unberechenbar im eigenen Marxismus
3 - Marx’ bemerkenswerte Analyse
4 - Die Freiheit der Neoliberalen
5 - Warum ein unorthodoxer Marxist?
6 - Die Erkenntnis von Keynes
7 - Die Lektion von Margaret Thatcher
8 - Was sollten MarxistInnen tun?
9 - Bündnisse mit dem Teufel
10 - Der pragmatische Marxist

Ich zog im September 1978 für das Studium nach England, etwa sechs Monate bevor Margaret Thatchers Sieg Britannien für immer veränderte. Während ich zusah, wie die Labour-Regierung unter dem Gewicht ihres verkümmerten sozialdemokratischen Programms zerfiel, erlag ich einem gravierenden Irrtum: Ich dachte, dass Thatchers Sieg gut sei, weil er der britischen Arbeiterklasse und dem Mittelstand einen kurzen, scharfen Schock versetzen würde, der nötig war, um eine progressive Politik wiederzubeleben; der der Linken eine Chance gebe, ein neues, radikales Programm für eine neue Art wirksamer, progressiver Politik zu schaffen.
Selbst als sich die Arbeitslosigkeit unter Thatchers radikalen neoliberalen Eingriffen verdoppelte und dann verdreifachte, hegte ich weiterhin die Hoffnung, dass Lenin recht habe: «Je schlimmer, desto besser.»

Als das Leben schmutziger, brutaler und für manche kürzer wurde, erkannte ich meinen tragischen Irrtum: Die Dinge konnten immer schlechter werden, ohne dass sie je besser wurden. Mit jeder Schraubendrehung der Rezession wurde die Linke noch etwas introvertierter und noch weniger fähig, ein überzeugendes progressives Programm zu entwickeln. Die Arbeiterklasse wurde gleichzeitig gespalten in diejenigen, die aus der Gesellschaft ausschieden, und diejenigen, die ins neoliberale Gedankensystem eingesogen wurden.
Meine Hoffnung, dass die Verschlechterung der «objektiven Bedingungen» irgendwie neue «subjektive Bedingungen» schaffe, denen eine politische Revolution entspringe, war schlicht Unsinn.
Alles, was dem Thatcherismus entsprang, waren Kleinkriminelle, eine extreme Aufwertung des Finanzmarkts, der Triumph der Einkaufszentren über den Quartierladen, die Verherrlichung des Eigenheims und … Tony Blair.
Mrs. Thatcher erteilte mir eine harte Lektion darüber, dass eine lang andauernde Rezession jede progressive Politik zu untergraben und die Menschenfeindlichkeit ins Gewebe der Gesellschaft zu tragen vermag. Diese Lektion vergesse ich auch angesichts der gegenwärtigen europäischen Krise nicht. Tatsächlich ist sie der wichtigste Faktor meiner Einschätzung der Krise. Dies ist der Grund, warum ich jene Sünde offen eingestehe, deren mich einige KritikerInnen aus der Linken bezichtigen: die Sünde, kein radikales politisches Programm zu vertreten, das die Krise als Gelegenheit begreift, den europäischen Kapitalismus umzustürzen, die grässliche Eurozone aufzulösen und die EU der Kartelle und bankrotten Banker zu untergraben.
Ja, ich würde liebend gerne ein solch radikales Programm vorstellen. Aber ich bin nicht bereit, denselben Irrtum zweimal zu begehen.
Ein griechischer oder portugiesischer oder italienischer Ausstieg aus der Eurozone würde bald zu einer Fragmentierung des europäischen Kapitalismus führen mit einer in einer starken Rezession steckenden Überflussregion östlich des Rheins und nördlich der Alpen, während der Rest von Europa sich im Griff einer unerträglichen Stagflation befände.  - Wer würde wohl von dieser Entwicklung profitieren?
 - Eine progressive Linke, die wie ein Phönix aus der Asche der europäischen öffentlichen Institutionen steigt?
 - Oder die Nazis der Goldenen Morgenröte, die verschiedenen NeofaschistInnen, die Xenophoben und die Kleinkriminellen?
Ich zweifle keinen Augenblick daran, welches von den beiden Lagern am meisten vom Zerfall der Eurozone profitieren würde.
Deshalb bin ich nicht bereit, dieser postmodernen Version der dreissiger Jahre neuen Schub zu verleihen.
Falls das heisst, dass wir, die angemessen unorthodoxen MarxistInnen, den europäischen Kapitalismus vor sich selbst retten müssen, dann ist es halt so.
Nicht aus Liebe für den europäischen Kapitalismus, für die Eurozone, für Brüssel oder die Europäische Zentralbank, sondern weil wir die menschlichen Opfer dieser Krise möglichst gering halten wollen.

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